„Ozeanwissenschaften helfen, den Klimawandel zu verstehen“

Meeresströmungen von der Oberfläche bis in die Tiefe sind ein wichtiges Forschungsfeld, das Aufschluss über Klima-Dynamiken geben kann.

Arne Biastoch ist Ozeanograph am GEOMAR in Kiel und erforscht unter anderem, welche Rolle das gewaltige Strömungssystem des Ozeans für unseren Planeten spielt - und wie es sich im Klimawandel verändert. Der Umgang mit komplexen Daten und mathematischen Modellen ist für ihn dabei unverzichtbar – eine Kompetenz, die er jungen Wissenschaftlern auch an der Helmholtz-Graduiertenschule MarDATA vermittelt.

Die entscheidende Frage zu Beginn: Herr Biastoch, wie haben Sie zu den Meereswissenschaften gefunden? „Das wird jetzt ganz schön klischeehaft“, sagt Arne Biastoch und lächelt. Und dann erzählt er: Von einer Kindheit in Husum an der rauen Nordsee. Von seiner Freude am Segeln und Surfen in der Jugend. Weit hinausfahren in das endlose Blau, in diese Weite, die so viel Unbekanntes birgt. Was ist dahinter? Wie funktioniert dieses gewaltige System der Ozeane, was treibt es an, wie entstehen die riesigen, komplexen Meeresströmungen? „Mir war immer klar, dass ich beruflich etwas mit dem Meer machen möchte – als Naturwissenschaftler.“

Leben und forschen am Meer

Locker steht Arne Biastoch an diesem Morgen an seinem Stehpult am GEOMAR, dem Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Hinter ihm im Büroregal hängt ein Kalender mit Meereswellen, daneben eine sternförmige Muschel.  Biastoch, hellblau kariertes Hemd, schwarz umrandete Brille, hat sich eine Tasse Kaffee zum Zoomcall geholt. Er ist sichtlich guter Stimmung, denn gleich wird er von seiner Forschung erzählen, von dem, was ihn seit jeher antreibt. Sein ganzes Leben hat er am Meer gewohnt, in der Kindheit an der Nordsee, im Studium an der Ostsee in Kiel, als Postdoc am Pazifik in San Diego, und seit Jahren wieder am Baltischen Meer in der Schleswig-Holsteinischen Landeshauptstadt. Heute ist Arne Biastoch Professor für Ozeanographie am GEOMAR, Schwerpunkt Ozeandynamik im Forschungsbereich Ozeanzirkulation und Klimadynamik.

 „Im Studium waren wir Exoten.“

"Wahrscheinlich hat keiner geglaubt, dass man mit Physikalischer Ozeanographie sein Geld verdienen kann. Von den vierzig Studierenden haben vielleicht zehn einen Abschluss gemacht, ich bin als einziger in die Forschung gegangen. Das Thema Klima spielte im Studium kaum eine Rolle, es war einfach 1987 noch nicht so präsent, zumindest nicht die Bedeutung, die das Fach heutzutage für das Verständnis des Klimawandels hat. Heute ist ‚Physik des Erdsystems‘ ein Bachelorstudiengang, der Ozeanographie, Meteorologie und Geophysik vereint, weil längst klar ist, dass man den Ozean betrachten muss, wenn man den Klimawandel verstehen will. Es gibt inzwischen sogar einen Master Klimaphysik.“

Expeditionen auf See aber gehörten schon in den 1980er Jahren zum Studium. Biastoch war fasziniert. Mit dem Schiff raus auf den Atlantik oder über die Ostsee. Messgeräte ins Wasser lassen, Salzgehalt, Temperatur messen. „Manchmal haben wir Verankerungen für große Anlagen ausgelegt, um die Strömung über mehrere Jahre zu messen.“ Da ist sie wieder, die Frage aus seiner Jugend: Wie funktionieren diese Strömungen eigentlich? Schnell hat Biastoch verstanden, dass messen allein nicht weiterführt. Erfassbar sind so nur Punkte in einem unendlichen Ozean, der Blick auf das Ganze fehlt. Muster, Zusammenhänge und die Relevanz dieser Bewegungen unter Wasser werden erst sichtbar, wenn man viele Messungen mit Hilfe von Mathe und Physik in einem Computermodell zusammenfügt. „Ich war beeindruckt, wie gut man Strömungssysteme mit Mathe und Physik beschreiben kann.“ Simulationsmodelle werden seine Leidenschaft. So kommt er nach Südafrika.

„Machen Sie das doch mal, Biastoch“

Kiel Anfang der 1990er Jahre.  Arne Biastoch sucht ein Thema für seine Promotion. Zufällig ist ein südafrikanischer Professor bei seinem Doktorvater in Kiel zu Gast. Der afrikanische Professor erzählt: „Es gibt noch kein Simulationsmodell der Strömungen um Südafrika.“ „Na sowas“, sagt sein Doktorvater. „Dann machen Sie das doch mal, Biastoch.“ Der junge Forscher schnappt sich Programme und Hochleistungsrechner, reist mehrfach zum Zipfel des afrikanischen Kontinents.

„Um Südafrika gibt es ein hochdynamisches Strömungssystem, sehr wechselhaft, schwierig zu messen und zu modellieren.“

„Als ich begann, wollte ich herausfinden, wie das regional funktioniert. Mit der Zeit erkannte ich: Was hier passiert, beeinflusst das globale Klima. Denn das Golfstromsystem im Nordatlantik ist verbunden mit Strömungen um Südafrika. Es gibt ein weltumspannendes Strömungsnetz, das sich aus warmen Oberflächenströmungen und kalten Tiefenströmungen zusammensetzt. Es wirkt wie riesige Heizung. Im Norden transportiert der Golfstrom warmes Wasser an der Oberfläche nach Norden und sorgt in Europa für mildes Klima. Um Südafrika wiederum schaufelt der Agulhasstrom warmes Wasser aus dem Indischen Ozean in den Atlantik. Dieses Wasser lässt sich später teilweise im Golfstrom nachweisen. Wenn sich also um Südafrika etwas verändert, verändern sich auch die nördlichen Elemente. Das Ganze war eine ganz neue Erkenntnis.“

Er ergänzt: „Eine andere Erkenntnis betraf den Mosambikkanal zwischen Madagaskar und afrikanischer Küste. Zuvor dachte man, dass es eine kontinuierliche Strömung vom Äquator bis zur Südspitze Afrikas gebe. In dem physikalisch-mathematischen Modell, das ich als Doktorand am Computer simuliert habe, zeigte sich: Das sind Wirbel. Ich konnte die Simulation zwar ansatzweise mit frühen Satellitendaten untermauern. Aber erst holländische Kollegen haben ein, zwei Jahre später endgültig die Richtigkeit meines Modells mit Schiffsmessungen verifiziert.“

Das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel

GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel

Das GEOMAR ist eine der weltweit führenden Einrichtungen auf dem Gebiet der Meeresforschung. Das GEOMAR erforscht den globalen Ozean vom Meeresboden bis in die Atmosphäre und deckt dabei ein einzigartiges Spektrum von physikalischen, chemischen, biologischen und geologischen Prozessen im Ozean ab. Kernthemen der Forschung am GEOMAR sind Ozean und Klima, Marine Ökosysteme und Biogeochemische Kreisläufe sowie Gefahren und Nutzen des Meeresbodens.Sie werden in den folgenden Forschungsbereichen untersucht:

  

  • Ozeanzirkulation und Klimadynamik
  • Marine Biogeochemie
  • Marine Ökologie
  • Dynamik des Ozeanbodens
Das GEOMAR in Kiel am Standort Ost. (Foto: P. Brandl/GEOMAR)

Data Science für Strömungssimulationen

Die Ergebnisse der Doktorarbeit werden zum Durchbruch seiner Wissenschaftskarriere. Biastoch hält Vortragsreisen, baut Forschungskooperationen mit südafrikanischen Wissenschaftler:innen auf. Wird später Professor am GEOMAR und 2019 Mitgründer und Sprecher der MarDATA Helmholtz-School for Marine Data Science, einem Graduiertenprogramm an der Schnittstelle von Datenwissenschaften und Meeres- und Erdsystemwissenschaften.  „Ohne Data Science geht es längst nicht mehr“, sagt Biastoch. Auf der ganzen Welt werden inzwischen Terabyte-weise Daten über die Meere zusammengetragen – von Eis- und Erdbeben unter Wasser, bis zu Strömungen und Wetterdaten über dem Ozean. Es bedarf neuer Methoden, um sie zu erfassen und effektiv auszuwerten. „Data Science ist – neben der Messung, Modellierung und Theorie – unser viertes Paradigma geworden“. Einer von Biastochs Doktoranden untersucht mit datenwissenschaftlichen Methoden gerade: Wo müssen wir messen, um repräsentative Daten für das Golfstromsystem zu bekommen? Der Ozean ist groß, viele Messungen sind nur schwer oder teuer durchführbar. „In den Daten stecken viele ungehobene Schätze“, sagt Biastoch. „Wir brauchen Datenwissenschaftler:innen, um sie zu ans Licht zu holen“. 

„Schauen Sie“, Biastoch öffnet eine Simulation auf seinem Bildschirm. Ein animierter Globus erscheint, zwischen Mittelamerika und Europa schlängelt sich eine blutrote Linie, anfangs durchgezogen wie ein Wollfaden, dann zerfällt der Faden in einzelne Stückchen, die kreiselnd Richtung Europa treiben – die Wirbel. „Diese Simulationen funktionieren wie ein Wettervorhersagemodell, nur dass wir Strömungen statt Wetter simulieren und nicht die Zukunft vorhersagen, sondern die Vergangenheit zu verstehen versuchen.“ Denn um das Ozeansystem zu simulieren, braucht man auch Wetterdaten – und die liegen natürlich erst auf dem Tisch, wenn der Tag vorbei ist.

Strömungssimulation modellieren anhand zahlreicher Daten das globale System von Meeresströmungen.

„Einer der größten Superrechner Deutschlands, in Jülich, rechnet monatelang für so ein Modell – und erfasst damit die Strömungen in allen Wassertiefen, von der Oberfläche bis zum Meeresboden.“

„Wir wissen ja nun, dass sich Strömungen manchmal in Wirbeln – oft von mehreren 100 Kilometern Durchmessern – fortbewegen. Sie richtig darzustellen, ist viel schwieriger als bei kontinuierlichen Strömen. An derselben Stelle können Messungen an einem Tag eine Strömung nach Norden dokumentieren, am anderen nach Süden. Damit kann man gar nichts anfangen. Für ein umfassendes Bild brauchen wir deshalb gute Daten, Superrechner und eine KI, die alleszusammenfügt. Es gibt hier noch viel zu erforschen: Reduzieren oder verstärken Strömungen den Transport des warmen Wassers? Ist das jetzt Folge des Klimawandels oder natürliche Variabilität?“

Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist gefragt

Zunehmend arbeiten Biastoch und sein Team mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen zusammen. „Wenn wir mit Chemikern, Geologen, Biologen reden, entstehen neue Ideen, zum Beispiel um Strömungen und ihre Rolle im Ökosystem besser verstehen zu lernen.“ So driftet der Nachwuchs von Glasaalen, die in der Sargassosee vor Florida laichen, langsam mit Strömungen nach Europa und schwimmen dort die Flüsse hoch. Kleine regionale Strömungen entscheiden dabei, wie schnell die Aalkinder in Europa ankommen. Schaffen sie es nicht innerhalb von zwei Jahren nach Europa, sterben sie. Im offenen Meer können sie auf Dauer nicht überleben. Was, wenn sich das Klima ändert und damit die Strömungsrouten? „Es gibt viele solcher umspannenden Fragestellungen“, ist Biastoch überzeugt: „Auch Atmosphäre, Wind, Verdunstung und Niederschlag spielen eng zusammen. Wenn es auf den Ozean regnet, wird er süßer, der Salzgehalt nimmt ab. Und welche Folgen hat es, wenn in Grönland schmelzende Festlandgletscher große Mengen Süßwasser ins Meer bringen? Warum steigt der Meeresspiegel in der einen Region stärker als im globalen Mittel, während er in einer anderen sinkt? Und welche Rolle schließlich spielt die Verteilung der Wärme im Meer – das ist eine der großen Fragen der nächsten Jahrzehnte.“

„Die Ozeanwissenschaften können helfen, den Klimawandel besser zu verstehen.“

„Schließlich sind die Ozeane die größten Wärmepuffer auf der Erde, sie nehmen 90 Prozent der Wärme auf dem Planeten auf und binden CO2. Ströme verteilen die Wärme und den Kohlenstoff. Wie funktioniert das? Was verändert sich bereits? Leider sind Strömungen so variabel und vielfältig, dass man kleine Veränderungen erst sehr spät erkennen kann. Es kommt darauf an, die Kipppunkte auszumachen und die Mechanismen, mit denen sich kleine Änderungen beschleunigen. Aus Klimamodellen wissen wir, dass die Umwälzleistung des Golfstromsystems in den kommenden Jahren abnehmen wird. Aber wahrscheinlich ist der Kipppunkt noch nicht erreicht, darüber gibt es eine große Debatte in der Wissenschaftsgemeinschaft. Wenn es dazu käme, was auf sehr langen, erdgeschichtlichen Skalen passiert, würde das System komplett zum Halten kommen. Wir hätten eine Eiszeit in Europa. Bei einer moderaten Entwicklung dagegen könnte das kühle Wasser die Erhitzung der Atmosphäre bremsen.“

MarDATA - Helmholtz School for Marine Data Science

MarDATA - Helmholtz School for Marine Data Science

Data Science für den Ozean

 

Die MarDATA bietet Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern die einmalige Gelegenheit, Data Science-Methoden gezielt zur Erforschung des Meeres weiterzuentwickeln. Diese Verbindung von Data Science und marinen Wissenschaften ist in Deutschland einzigartig.

Das Ziel der MarData ist es, einen neuen Typus von „marinen Data Scientists“ zu definieren und in einem strukturierten Promotionsprogramm auszubilden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Computerwissenschaft, Informatik und Mathematik arbeiten dabei gemeinsam an marinen Themen. Dies umfasst unter anderem die Modellierung auf Supercomputern, (Bio-)Informatik und Robotik oder Statistik und Big Data-Methoden.

 

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Verstehen, um zu handeln

Die Rätsel dieses gewaltigen Systems möchte Arne Biastoch mit seinen Forschungen knacken. In Kooperation mit einem Startup entwickelt sein Team gerade ein Navigationssystem für das Meer, eine Art digitaler Routenplaner für den schnellsten Weg durch den Ozean, der am wenigsten Treibstoff verbraucht. KI-Modelle berechnen tages- und punktgenau Strömungen. Denn wenn sich Schiffe von ihnen durchs Meer unterstützen lassen, verbrauchen sie weniger Schweröl. „Im Computermodell hat das schon funktioniert: Ein Containerschiff, das auf dem optimalen Weg von Florida nach Europa fährt, verbraucht bis zu 10 Prozent weniger Kraftstoff und spart damit auch CO2“.

Biastoch lässt sich in seinen schwarzen Drehstuhl sinken und gibt ihm einem Stups, so dass er zum Rechner auf dem Schreibtisch gleitet. Der Terminkalender auf dem Screen ist voll. Vorträge halten, Verhandlungen mit Geldgebern führen, neue Partner für die MarDATA an Bord holen, das Konzept der School weiterentwickeln, Doktorand:innen für die Wissenschaft gewinnen. Ist die Liste nicht manchmal ein wenig lang? Biastoch lacht. „Ach was, es motiviert doch gerade, wenn es läuft.“ Erst waren es die eigenen Erfolge, jetzt ist es zunehmend die Freude über die Arbeiten seines Teams, seiner jungen Forscherinnen und Forscher. Bis heute fasziniert ihn dieses gewaltige System der Ozeane und dessen Auswirkungen auf das Klima – eines Systems, das im Wandel strauchelt. In Katastrophenmeldungen abzurutschen ist Arne Biastoch jedoch fern. Er will: verstehen. „Eine gute Kenntnis der Ozeane haben wir zwar erst seit 20 Jahren. Aber auf der Datenbasis können wir nun Klimamodelle für die vergangenen und die kommenden 20 Jahre simulieren“, sagt Biastoch. „Und das ist der nächste Schritt zu einem besseren Verständnis – und zum Handeln“.

  

Autorin: Anja Dilk

Alternativ-Text

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